Katyn 1940 - Das ungesühnte Verbrechen (2024)

Katyn 1940 - Das ungesühnte Verbrechen (1)

Die Ereignisse selbst sind schnell zusammengefasst: Im April 1943 wurde von den Deutschen eine schockierende Nachricht in die Welt gesetzt - einige Wochen zuvor hatten sie die Leichen der seit Frühjahr 1940 vermissten polnischen Offiziere entdeckt. Endlich kam man dem grausamen Massenmord auf die Spur, dem etwa 25.000 Menschen zum Opfer gefallen waren. Und der im Grunde durch einen einzigen Brief ausgelöst worden war: Am 5. März 1940 schrieb der sowjetische Innenminister Berija an Stalin, er würde empfehlen, die in russischen Gefangenenlagern befindlichen polnischen Offiziere und Mitglieder konterrevolutionärer Gruppen zu erschießen. Stalin stimmte seinem Vorschlag zu, und einen Monat später begannen die Exekutionen. Sie dauerten von Anfang April bis Mitte Mai und wurden an mehreren Orten durchgeführt. Einer dieser Orte war Katyn, das seitdem als Symbol des Verbrechens galt. - Es gibt viele Historiker und Publizisten die sich mit diesem Thema beschäftigt haben. Im Falle von Thomas Urban war es aber, wie sich herausstellt, eine fast lebenslange Beschäftigung.

"Ich kannte als Jugendlicher schon das Thema aus dem simplen Grunde, mein Vater war im Krieg in der Wehrmacht in der Gegend von Smolensk und gehörte zu den deutschen Soldaten, die an die Massengräber geführt worden sind. Dann, in meiner Zeit als Korrespondent in Warschau und Moskau, kam dieses Thema immer wieder auf. Ich habe an der ersten Reise des polnischen Regierungschefs nach Katyn teilgenommen im sehr kalten November 1989, und habe an vielen Konferenzen zu Katyn teilgenommen, habe auch mit Experten geredet, sowohl polnischen wie russischen. Das Thema war mir also gut vertraut."

Gegenseitige Schuldzuweisungen

Dieses Thema ist allerdings mit dem Mord selbst und der Entdeckung der Leichen noch lange nicht ausgeschöpft. Beides hatte ein hochbrisantes Nachspiel: Die Deutschen lasteten das Massaker den Sowjets an, diese wiesen die Schuld den Deutschen zu, und die Polen tendierten dazu, die deutsche Version zu glauben. Kurz nach der Bekanntgabe des Fundes forderte die polnische Exilregierung in London eine Untersuchung durch das Internationale Rote Kreuz. Einen Tag früher hatten die Deutschen das Gleiche getan. Dieser plötzliche deutsch-polnische Schulterschluss wurde von Stalin zum Anlass genommen, die Polen der Zusammenarbeit mit den Nazis zu beschuldigen und die diplomatischen Beziehungen zu der polnischen Regierung abzubrechen. Deren Haltung sorgte aber auch für die Irritation der Briten und Amerikaner, für die, wie Urban schreibt, nichts wichtiger war als die Anti-Hitler-Koalition mit Stalin.

"Sowohl Churchill als auch Roosevelt haben sich für Realpolitik entschieden: Die Anti-Hitler-Koalition dürfe auf keinen Fall gefährdet werden, Sie ignorierten und isolierten folglich die Exilpolen. Im kollektiven Gedächtnis der Polen war dies zynisch und unmoralisch, ein Verrat, der dem noch größeren von Jalta vorausging, als die Westmächte noch vor dem Ende des Krieges die künftige Herrschaft Stalins über Osteuropa absegneten."

Viele unterschiedliche Zahlen

Was an Katyn bis heute verwundert, sind die sehr unterschiedlichen Zahlen, die in diesem Zusammenhang genannt werden. Mal ist von über 4.500 Ermordeten, mal von 22- oder gar 25.000 die Rede. Das liegt, wie Urban erklärt, an den verschiedenen Erschießungsorten, die es außer Katyn gab und die zum Teil erst Anfang der 90er-Jahre bekannt geworden sind.

"In Katyn selbst wurden erschossen etwa 4400 polnische Offiziere, Fähnriche und Beamte. Die Zahl, die auch im Umlauf ist, von insgesamt 15.000 bezieht sich auf alle drei ermittelten Orte zusammen - neben Katyn waren das noch die Stadt Kalinin, und es waren noch Charkow in der heutigen Ukraine - die Gefangenen aus diesen drei Lagern machten zusammen 15.000 aus. Die Zahl 22.000, die auch genannt wird, ist die Zahl die von sowjetischer Seite bestätigt wurde und wofür es Belege gibt. Die Zahl 25 ist die Gesamtzahl, die in dem allerersten Mordbefehl von 1940 auftaucht, aber wo die letzten 3000 genau geblieben sind, das weiß man bis heute nicht genau."

Für die Westalliierten war der Mord von Katyn trotz seiner Grausamkeit nur eine Episode, für die Polen aber alles andere als das. Schon die Okkupation durch die Deutschen war mehr als sie verkraften konnten. Dass sich aber zu dem einen Besatzer nach kurzer Zeit noch ein zweiter gesellte und innerhalb von wenigen Wochen über zwanzigtausend Männer - und eine Frau - ermordete, die fast ausnahmslos dem polnischen Bildungsbürgertum angehörten, war ein Schlag, unter dem das Land jahrzehntelang zu leiden hatte.

"Nach Zivilberufen aufgeschlüsselt waren unter den Toten rund 800 Ärzte, darunter mehrere Dutzend Professoren, etwa 300 Ingenieure, ein Großteil von ihnen Experten der polnischen Rüstungsindustrie, 200 Juristen. Auch waren mehrere Hundert Hochschullehrer anderer Fachrichtungen darunter."

Katyn - ein Tabu

Das Massaker von Katyn wurde auch nach dem Krieg jahrzehntelang tabuisiert. Ende der 50er-Jahre wurden die Personalakten der Ermordeten vom KGB vernichtet, und der Name Katyn durfte im ganzen Ostblock nicht einmal erwähnt werden. - Heute, nach 75 Jahren, liegen zu dem Thema so viele Publikationen vor, dass man meinen könnte, es sei inzwischen wirklich alles gesagt worden. Dieser Ansicht war auch Thomas Urban, bis er auf ganz neue Aspekte gestoßen ist. Vor allem darauf, welche Rolle die deutschen Widerstandskämpfer gegen Hitler bei den Nürnberger Prozessen gespielt haben, bei denen die Sowjetunion Katyn auf die Liste der deutschen Kriegsverbrechen setzen wollte.

"Der Zufall wollte es, dass zu den Überlebenden des Attentates auf Hitler vom 20. Juli 1944 der Jurist und frühere Oberleutnant Fabian von Schlabrendorff gehörte. Dieser wurde nach dem Krieg von dem amerikanischen Geheimdienst OSS befragt, zum Widerstand in der Wehrmacht, zum Widerstand in der Kirche. Und Schlabrendorff erfuhr, dass die Sowjets Katyn auf die Liste der deutschen Verbrechen setzten wollte. Schlabrendorff war aber sehr gut über den Fall informiert, weil er nämlich im Krieg, 1943, als die Gräber entdeckt worden sind bei Smolensk, im Wald von Katyn, genau dort stationiert war. Und er kannte genau die Ergebnisse der Exhumierungsarbeiten und hatte keinen Zweifel, das war ein Verbrechen des sowjetischen Geheimdienstes. Und weil Schlabrendorff zum Widerstand gehörte, weil er vorher KZ-Häftling war, war er für die Amerikaner glaubwürdig. Und hinter den Kulissen wurde dann der amerikanische Hauptankläger Robert Jackson überzeugt, dass Katyn aus der Anklageschrift entfernt werden sollte. Und ich bin zufällig darauf gestoßen."

Es hat 50 Jahre gedauert, bis die Vorgänge von Katyn von den Sowjets bestätigt wurden. Und noch weitere 20 Jahre, bis ein russischer Regierungschef erstmals nach Katyn kam: Am 7. April 2010 trafen am Ort des Verbrechens zwei Delegation zusammen: eine polnische mit Ministerpräsident Donald Tusk an der Spitze, und eine sowjetische, die von Wladimir Putin angeführt wurde.

"Doch Putin sprach allgemein von Opfern eines "totalitären Regimes". In Katyn lägen viel mehr Russen als Polen, auch Offiziere der Armee des Zaren, Kosaken, orthodoxe Priester, Intellektuelle."

Ein Flugzeugabsturz als Wendepunkt

Erst der Flugzeugabsturz bei Smolensk, bei dem drei Tage später der polnische Präsident Lech Kaczynski und 95 weitere Personen ums Leben kamen, brachte einen neuen Durchbruch: Der russische Staatspräsident Medwedew ließ 67 Aktenbände zu dem Mord an Warschau übergeben, und das russische Fernsehpublikum bekam Andrzej Wajdas Film "Das Massaker von Katyn" zu sehen. - Dennoch gilt Katyn in Polen immer noch als eine offene Wunde und ein ungesühntes Verbrechen. So sieht es auch Thomas Urban, der nach seinem gut recherchierten und flüssig geschriebenen Buch nun an dessen polnischer, viel umfangreicherer Ausgabe arbeitet.

"Es ist über Katyn noch nicht alles gesagt. Die Dokumente des amerikanischen Geheimdienstes CIC sind erst vor wenigen Monaten bekannt gegeben worden. Es sind auch britische Dokumente unter Verschluss. Ganz viele sowjetische Dokumente sind noch unter Verschluss. Also die Fragen sind noch nicht beantwortet. Und auch bei der Gesamtzahl der Toten ist noch nicht klar, wo alle liegen und wo alle zu Tode gekommen sind. Wir wissen das wohl von dem Ort Katyn selbst, aber wissen das nicht von einem Teil der anderen Orte, wo gleich zur selben Zeit die polnische Elite erschossen worden ist."

Thomas Urban: "Katyn 1940. Geschichte eines Verbrechens"
Verlag C.H.Beck, München 2015. 249 Seiten, 12.95 Euro.

Katyn 1940 - Das ungesühnte Verbrechen (2024)

FAQs

What was the acknowledgment of the Katyn massacre? ›

The Soviet government officially accepts blame for the Katyn Massacre of World War II, when nearly 5,000 Polish military officers were murdered and buried in mass graves in the Katyn Forest. The admission was part of Soviet leader Mikhail Gorbachev's promise to be more forthcoming and candid concerning Soviet history.

What was the point of the Katyn massacre? ›

The reason for the massacre, according to the historian Gerhard Weinberg, was that Stalin wanted to deprive a potential future Polish military of a large portion of its talent. The Soviet leadership, and Stalin in particular, viewed the Polish prisoners as a "problem" as they might resist being under Soviet rule.

Did anyone survive the Katyn massacre? ›

Stanisław Swianiewicz (7 November 1899 – 22 May 1997) was a Polish economist and historian. A veteran of the Polish-Soviet War, he was during World War II a survivor of the Katyn massacre and an eyewitness of the transport of Polish prisoners-of-war to the forests outside Smolensk by the NKVD.

Is Katyn in Poland or Russia? ›

In 2010, Moscow acknowledged responsibility for the Katyn massacre and issued a formal apology, but a recent document now blames Nazi Germany for the war crime. Dissection of a corpse exhumed in 1943 from the Katyn mass graves in Russia. ullstein bild Dtl.

What was the Katyn controversy? ›

Katyn Massacre, mass execution of Polish military officers by the Soviet Union during World War II. The discovery of the massacre precipitated the severance of diplomatic relations between the Soviet Union and the Polish government-in-exile in London.

What was the mystery of the Katyn massacre? ›

In January, 1944, Soviet authorities issued a report claiming that the Germans had murdered the Polish POWs. In 1990-92 Soviet, then Russian authorities agreed that the Soviets were indeed the guilty party. But by 2010 serious evidence had been discovered that cast doubt on Soviet guilt.

Who were the victims of the Katyn massacre? ›

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  • Wojciech Bursa.

What is the Katyn massacre denialism? ›

Anti-Katyn (Polish: Anty-Katyń, Russian: Анти-Катынь) is a denialism campaign intended to reduce and obscure the significance of the Katyn massacre of 1940 — where approximately 22,000 Polish officers were murdered by the Soviet NKVD on the orders of Joseph Stalin — by referencing the deaths from disease of thousands ...

How many casualties were there in Katyn? ›

On March 9, 1959, KGB chief Aleksandr Shelepin submitted a report to Soviet leader Nikita Khrushchev summarizing figures “kept at the Committee of the State Security of the Council of Ministers USSR.” According to these figures, a total of 21,857 prisoners were killed in the Katyń Massacres: 4,421 at Katyń; 3,820 at ...

Which Soviet executioner had the most kills? ›

Blokhin is recorded as having executed tens of thousands of prisoners by his own hand, including his killing of about 7,000 Polish prisoners of war during the Katyn massacre in spring 1940, making him the most prolific official executioner in recorded world history.

How many poles died under Soviet rule? ›

From 1945 to 1948, the Soviets deported to forced labor or concentration camps in the Soviet Union from 3,000,000 to 6,000,000 Poles, of which 585,000 may have died. Hundreds of thousands and possibly near 1,000,000 Poles were killed in Soviet terror and repression.

Why did Russia invade Poland? ›

The Soviet government announced it was acting to protect the Ukrainians and Belarusians who lived in the eastern part of Poland, because the Polish state had collapsed – according to Soviet propaganda, which perfectly echoed Western sentiment that coined the term "Blitzkrieg" to describe Germany's "lightning war" ...

What is the Katyn massacre lie? ›

On April 15, 1943 Radio Moscow published a communiqué from the Soviet Information Bureau that blamed the Germans for the massacre of Polish officers. This communiqué gave birth to the false Soviet version of the murder of Polish prisoners of war, which became known as the Katyn lie.

When did the Katyn massacre end? ›

What was Poland called in the Russian empire? ›

Congress Poland
Kingdom of Poland Królestwo Polskie (Polish) Царство Польское (Russian)
ReligionRoman Catholicism show Minorities:
Demonym(s)Polish, Pole
GovernmentConstitutional monarchy (1815–1832) Absolute monarchy (1832–1915)
King
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What was the Katyn massacre in the United States? ›

The story the Katyn Massacre—the mass murder of thousands of Polish officers by the Soviet regime in 1940—and its subsequent treatment in the news strikingly reveals how the governments of the United States, the United Kingdom, and the Soviet Union shaped public memory of World War II according to their changing ...

What was the Katyn massacre 1990? ›

The Katyn massacre happened in April and May 1940. Stalin ordered it on Beria's advice. In April 1990, the Soviet Union/Russia admitted it was responsible. In 1990, Mikhail Gorbachev officially apologised.

What happened to the Polish prisoners of war? ›

As a result of the Soviet invasion of Poland in 1939, hundreds of thousands of Polish soldiers became prisoners of war. Many of them were executed; 22,000 Polish military personnel and civilians perished in the Katyn massacre alone.

What was the Polish massacre 1941? ›

In Jedwabne, on 10 July 1941, the Poles had burned in a barn and murdered the entire local Jewish community – altogether about 1,000 people.

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