Massaker von Katyn: So ließ Stalin Polens Offiziere töten - WELT (2024)

Zweiter Weltkrieg Massaker von Katyn

Zwei hielten die Opfer fest, ein Dritter setzte den Kopfschuss

Um bei einer Sowjetisierung des Landes freie Hand zu haben, befahl Stalin 1940 die Ermordung von 25.000 polnischen Kriegsgefangenen. Drei weitere Mitglieder des Politbüros unterschrieben die Order – und starben hochgeehrt.

| Lesedauer: 5 Minuten

Von Sven Felix Kellerhoff

Leitender Redakteur Geschichte

Als die Rote Armee in Ostpolen einmarschierte

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Das Morden begann am 3. April 1940. An diesem Mittwoch kam der erste Zug aus dem Lager für kriegsgefangene polnische Offiziere in Koselsk am kleinen Bahnhof Gnesdowo im Westen Russlands bei Smolensk an. Etwa zwei Tage hatten die Männer in den Zellen der Gefängniswaggons verbracht – teilweise saßen 20 in einer Zelle, die eigentlich für jeweils sechs ausgelegt waren.

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Über diese erste Zugfahrt hat sich kein Zeugnis eines Überlebenden erhalten. Man kann daher nur annehmen, dass am 3. April etwa das Gleiche geschah wie am 30. April 1940, als Stanislaw Swianiewicz, Hauptmann der Reserve der polnischen Armee und im Hauptberuf Professor der Wirtschaftswissenschaften an der (bis 1939 polnischen) Universität Wilna, an Bord war.

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Er berichtete in seinen 1976 erschienenen Memoiren, was er weiter sah. An dem kleinen Bahnhof von Gnesdowo hielt der Zug; ein Kordon von Soldaten der sowjetischen Geheimpolizei NKWD sperrte die Station ab. Ein kleiner Bus mit weiß angemalten Scheiben fuhr rückwärts an die Tür eines der Waggons heran, und die NKWD-Begleiter im Zug drängten etwa 30 Männer hinein. Dann fuhr der Bus fort.

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Plötzlich hörte Swianiewicz seinen Namen. Ein Oberst des NKWD mit dem „rot-blauen Gesicht eines Schlächters“ teilte ihm mit, er werde nicht mit den anderen polnischen Offizieren weiterfahren. Der Professor wusste nicht, dass er im letzten Moment dem Tod von der Schippe gesprungen war und überleben durfte. Denn kein einziger der Kriegsgefangenen konnte je bezeugen, was mit jenen Männern geschah, die in die Busse stiegen. Dafür wurden drei Jahre später Tausende bereits stark verweste Leichen im Wald von Katyn entdeckt, 3,5 Kilometer westlich vom Bahnhof Gnesdowo.

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Aus den Untersuchungen einer von Hitlers Chefpropagandisten Joseph Goebbels beauftragten, teilweise aber dennoch seriösen internationalen Untersuchungskommission konnte rekonstruiert werden: Ein Teil der insgesamt etwa 4420 gefundenen Leichen wurde im Keller eines Erholungsheims des NKWD getötet, der Rest direkt an den im Wald ausgehobenen Massengräbern.

Die Täter gingen offenbar immer gleich vor: Zwei NKWD-Männer hielten den Todeskandidaten fest, dann trat von hinten der Schütze heran, setzte seine deutsche Pistole des Modells Walther 7,65 Millimeter an den Hinterkopf und drückte ab. Anschließend fiel die Leiche in die Grube. Auf diese Weise dauerte jeder Mord weniger als eine Minute. Zwischen dem 3. April und dem 19. Mai 1940 starben so in Katyn und an mindestens fünf weiteren Orten etwa 22.000 polnische Offiziere und andere Angehörige der katholisch-nationalen Elite.

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Der Massenmord, für den symbolisch der Name des Wäldchens bei Smolensk steht, gehört zu den größten einzelnen Kriegsverbrechen von Stalins Regime, das insgesamt eine siebenstellige Zahl von Opfern produzierte. Es ist zugleich dasjenige, bei dem die Ähnlichkeiten zur Mordmaschinerie des nationalsozialistischen Dritten Reiches am größten waren.

Am 5. März 1940 hatte NKWD-Chef Lawrenti Beria die Aktennotiz Nr. 794/B an Josef Stalin geschickt. Darin wurde behauptet, die in der zweiten Septemberhälfte 1939 in sowjetische Kriegsgefangenschaft geratenen polnischen Offiziere seien „erklärte und hoffnungslose Feinde der Sowjetmacht“.

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Das war angesichts der traditionellen Feindschaft zwischen Polen und Russen sowie wegen des Überfalls der Roten Armee auf das von Hitlers Wehrmacht angegriffene Land am 17. September 1939 wahrscheinlich sogar richtig. Zumal das Offizierskorps sich wesentlich aus dem strikt antikommunistisch eingestellten Bürgertum rekrutierte.

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Beria schlug Stalin die umgehende Erschießung dieser Kriegsgefangenen vor – ohne Anklage, ohne gerichtliche Untersuchung und ohne Schuldspruch. Noch am gleichen Tag akzeptierte Stalin den Vorschlag und ließ drei Mitglieder des Politbüros der KPdSU ein bürokratisches Todesurteil für etwa 25.000 Menschen unterzeichnen.

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Es handelte sich um Kliment Woroschilow, Wjatscheslaw Molotow und Anastas Mikojan – drei Männer, die noch Jahre nach Stalins Tod 1953 in höchsten Funktionen standen und alle hochgeehrt starben. Keiner von ihnen wurde je für das Verbrechen, das sie mit angeordnet hatten, zur Rechenschaft gezogen.

Stalins Kalkül bei dem Massenmord ist offenkundig: Er wollte die potenziellen Gegner einer Sowjetisierung Polens ausschalten, solange sie sich in seiner Gewalt befanden. Auch darin ähnelte das Vorgehen der Sowjetunion übrigens jenem des Dritten Reiches: Beide Mächte setzten es sich zum Ziel, die gesellschaftliche Elite Polens zu vernichten.

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Diesem Zweck diente auch der „Sonderauftrag Krakau“ der SS in der besetzten polnischen Stadt im November 1939, bei dem gezielt die verbliebene Professorenschaft der Universität festgenommen und ins KZ verschleppt wurde. Denn ohne potenzielle Anführer war der drohende Widerstand gegen die Besatzung weniger riskant. Ein mörderisches Kalkül.

Nachdem die Sowjetunion unter Michail Gorbatschow 1990 die Massaker eingeräumt hatte und polnischen Archäologen in Katyn und andernorts Untersuchungen erlaubte, folgte eine gut 20-jährige Phase, in der Russland relativ offen mit diesem Verbrechen umging. Anfang April 2010 besuchte der damalige Ministerpräsident Wladimir Putin sogar gemeinsam mit seinem polnischen Kollegen Donald Tusk zum 70. Jahrestag des Massenmordes die Gedenkstätte in Katyn.

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Wenige Tage später starb bei einem tragischen Flugzeugabsturz in Smolensk ein Großteil der polnischen Staatsführung einschließlich des Präsidenten Lech Kaczynski. Das Unglück, ausgelöst höchstwahrscheinlich durch schlechtes Wetter und menschliches Versagen, löste in Polen ein zweites Katyn-Trauma aus.

Doch auch Putin nutzte die Chance gemeinsamer Erinnerung nicht. Zehn Jahre nach Tusks Besuch schlägt der russische Autokrat einen völlig anderen Ton an, sobald es um den Zweiten Weltkrieg geht. Jede kritische Aufarbeitung der Verbrechen des Stalinismus wird inzwischen unterbunden. Stattdessen werden in den Staatsmedien wieder die Heldenmythen beschworen, die schon 1945 bis 1989 die sowjetische Selbstdarstellung des „Großen Vaterländischen Krieges“ dominierten.

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FAQs

Wer ist für Katyn verantwortlich? ›

Nach neuen Dokumentfunden dazu räumte der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow am 13. April 1990 die Verantwortung der Sowjetunion für diese Massenmorde ein und entschuldigte sich später beim polnischen Volk.

Was geschah im Wald von Katyn? ›

Weniger Tage später wurde auch Jakubowicz deportiert und in einem Wald bei dem russischen Dorf Katyn, 20 Kilometer westlich von Smolensk, erschossen – einer von über 4.400 polnischen Offizieren, die hier zwischen dem 3. April und 19. Mai 1940 den Schergen des sowjetischen Geheimdienstes NKWD zum Opfer fielen.

Wo liegt Katyn in Polen? ›

Das Dorf liegt 20 km westlich des Oblast- und Rajonzentrums Smolensk nahe dem nördlichen Dnepr-Ufer im Bereich der Einmündung des Nebenflusses Katynka. Der größere Teil des Ortes liegt westlich der Katynka an der Fernstraße P-120 (früher: A 141), die von Orjol über Smolensk und Rudnja zur belarussischen Grenze führt.

Wann war das Massaker von Katyn? ›

Auf einen Befehl des Politbüros der KPdSU begannen am 3. April 1940 Einheiten des sowjetischen Innenministeriums NKWD mit der systematischen Ermordung tausender polnischer Offiziere und Intellektueller.

Was versteht man unter Massaker? ›

Ein Massaker (von französisch massacre; abgeleitet von altfranzösisch maçacre ‚Metzgerei, Schlachterei') ist ein Massenmord unter besonders grausamen Umständen, ein Gemetzel oder Blutbad, häufig im Zusammenhang mit Motiven wie Hass oder Rache.

Welcher Teil von Polen war deutsch? ›

Deutschland hatte schon nach dem Ersten Weltkrieg Gebiete abtreten müssen. Das war vor allem Teile von Westpreußen, Posen und Schlesien. Diese Gebiete wurden damals polnisch. Außerdem gehörte dazu das Memelland, das war ein Teil Ostpreußens auf der östlichen Seite des Flusses Memel.

War Polen Teil von Russland? ›

In den drei so genannten „Polnischen Teilungen“ Ende des 18. Jahrhunderts wurde Polen unter Russland, Preußen und Österreich-Ungarn aufgeteilt.

Wie hieß Polen? ›

Polen
Republik Polen
Rzeczpospolita Polska
WährungZłoty (PLN)
Errichtung960–992 n. Chr.
Unabhängigkeit11. November 1918
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Was war das grösste Massaker der Welt? ›

Im Juli 1995 ermordeten bosnisch-serbische Soldaten in dem bosnischen Ort Srebrenica mehr als 8.000 muslimische Jungen und Männer. Die juristische Aufarbeitung ist weitgehend abgeschlossen. Doch Serbien weigert sich bis heute, die damaligen Verbrechen als Genozid anzuerkennen. .

Was war das schlimmste Kriegsverbrechen? ›

Das Massaker gilt als das schwerste Kriegsverbrechen in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Prozesse vor internationalen Gerichten zeigten, dass die Verbrechen nicht spontan erfolgten, sondern systematisch geplant und durchgeführt wurden und als Völkermord einzuordnen sind.

Wo fand das Massaker statt? ›

Das Massaker von Oradour am 10. Juni 1944 war ein durch die Waffen-SS verübtes Kriegsverbrechen an der Bevölkerung des französischen Dorfes Oradour-sur-Glane.

Wo leben Deutsche in Polen? ›

Die meisten Deutschen leben in Oberschlesien und Masuren. Außerhalb dieser Regionen überschreitet der Anteil der deutschen Minderheit an der Gesamtbevölkerung in keiner Gemeinde die 1-Prozent-Marke. Mit etwa 115.000 deutschen Einwohnern macht Oberschlesien den größten Teil der gut 150.000 Deutschen in Polen aus.

Wo grenzt Polen an Russland? ›

Die polnisch-russische Grenze ist die zwischen Polen und der Oblast Kaliningrad Russlands. Das Gebiet hat als Exklave keine inländische Landverbindung zum Rest Russlands. Die Grenze ist 232,04 km lang, einschließlich des 22,21 km langen Anteils in der Ostsee, der die Hoheitsgebiete abgrenzt.

Ist Polen sehr katholisch? ›

Die Römisch-Katholische Kirche ist mit einer Anhängerschaft von 71,4 % der Bevölkerung (Volkszählung 2021) mit Abstand die größte Konfession. Seit der Volkszählung 2011 ist die Zahl der sich als Katholiken Bekennenden um rund 6 Millionen Menschen (etwa 15 %) gefallen.

Wie viele deutsche Soldaten haben Polen eingenommen? ›

Truppenstärke beim deutschen Überfall auf Polen am 01. September 1939 nach Kriegspartei
MerkmalGesamtdavon Deutsche
Truppenstärke2.312.0001.512.000

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